Digitale Medizinprodukte, die von Gesundheits-Apps auf dem Smartphone bis hin zu tragbaren Sensoren an den Schuhen reichen, werden in Zukunft eine zentrale Rolle im Gesundheitswesen spielen. Viele dieser innovativen Tools ermöglichen bereits heute die Erfassung von Gesundheitsdaten und leisten so einen Beitrag zur medizinischen Forschung. Das eigentliche Ziel ist jedoch, digitale medizinische Geräte zu entwickeln, zu validieren und zugänglich zu machen, die medizinische Entscheidungen unterstützen, Patienten stärken und ihre Lebensqualität verbessern. Zu diesem Zweck untersucht die Digital Medicine Forschungsgruppe am Luxembourg Centre for Systems Biomedicine (LCSB) und am Centre Hospitalier de Luxembourg (CHL) die bestehenden Herausforderungen. Diese reichen von der Akzeptanz dieser digitalen Technologien durch Patienten und medizinischem Fachpersonal bis hin zur Schaffung eines evidenzbasierten regulatorischen Rahmens – um zur digitalen Transformation des Gesundheitswesens in Europa beizutragen.
Viele digitale Medizinprodukte entstehen ursprünglich als Forschungsprototypen zur Datenerhebung bei Patienten. „Was die Forschung betrifft, unterstützen digitale Geräte eindeutig die personalisierte Medizin durch bessere Patientendaten. Doch wir müssen darüberhinaus sicherstellen, dass sie auch einen Mehrwert für jede Fachkraft im Gesundheitswesen und ihre Patienten bieten“, erklärt Prof. Jochen Klucken, FNR PEARL Chair für Digitale Medizin und Leiter der Digital Medicine Gruppe am LCSB und am CHL. Sein interdisziplinäres Team vereint daher Fachwissen von Informatikern, Ingenieuren, Klinikern und Sozialwissenschaftlern, um die Gestaltung, Umsetzung und Nutzung digitaler medizinischer Geräte und verwandten Technologien zu verbessern.
Nutzerzentriert, inklusiv und zugänglich
Ein zentrales Forschungsthema des Teams ist die Perspektive der PatientInnen und ihre Bereitschaft, digitale Werkzeuge zu nutzen. Dr. Ivana Paccoud, Postdoktorandin in der Gruppe, führte zu diesem Thema Umfragen durch. Ihre Ergebnisse, veröffentlicht in der Fachzeitschrift Digital Health, zeigen zwar eine hohe Bereitschaft der Patienten zur Nutzung digitaler Geräte und der Weitergabe von Gesundheitsdaten. Allerdings variieren Meinungen und Präferenzen je nach Alter, Bildungsniveau und Krankheitsstadium. „Ältere Teilnehmer und Patienten mit fortgeschrittener Erkrankung äußerten beispielsweise Bedenken hinsichtlich ihrer Fähigkeit, digitale Technologien zu nutzen“, so Dr. Paccoud. „Gerade diese Gruppen könnten stark von digitalen Innovationen profitieren, aber nur, wenn ihre spezifischen Bedürfnisse bereits in der Entwicklungsphase berücksichtigt werden. Unsere Studie zeigt, wie wichtig es ist, die Patientenperspektive systematisch in Gestaltung und Entwicklung neuer digitaler Medizinprodukte einzubeziehen.“
Auch die Förderung digitaler Kompetenzen bei weniger technikaffinen Nutzer ist entscheidend. Ebenso wichtig ist ein universeller Zugang zu digitalen Gesundheitstechnologien, damit der digitale Wandel nicht bestehende soziale Ungleichheiten verschärft. Doch benutzerfreundliche und zugängliche Geräte zu entwickeln, ist nur eine von mehreren Herausforderungen. Es bedarf auch eines regulatorischen Rahmens, um diese neuen Technologien in die bestehenden Gesundheitssysteme zu integrieren.
Ein fragmentiertes Europa braucht Harmonisierung
An dieser Stelle kommt die Europäische Arbeitsgruppe zur harmonisierten Bewertung digitaler Medizinprodukte ins Spiel. Sie wurde 2022 gegründet, um eine gemeinsame Strategie für digitale Medizinprodukte in Europa zu entwickeln. In einem in npj Digital Medicine veröffentlichten Artikel, präsentierte die Arbeitsgruppe zwei neue Werkzeuge zur besseren Integration digitaler Gesundheitstechnologien in die nationalen Gesundheitssysteme. „Diese Werkzeuge gehören zu einem Klassifikationssystem für digitale medizinische Geräte. Es hilft uns, deren Nutzen besser zu bewerten und ihre Einbindung in die Gesundheitssysteme zu erleichtern“, erklärt Prof. Klucken, Mitglied und Berichterstatter der Arbeitsgruppe.
Zwar steigt der Einsatz digitaler Geräte bei Patienten und medizinischem Personal stetig an, doch nur wenige EU-Mitgliedstaaten verfügen über geeignete institutionelle Bewertungsverfahren. Darüber hinaus unterscheiden sich die bestehenden Verfahren von Land zu Land, was zu einer Inkonsistenz und einer Fragmentierung der europäischen Landschaft beim Zugang und bei der Erstattung dieser medizinischen Produkte führt. „Frankreich und Deutschland beispielsweise verwenden unterschiedliche Methoden und bewerten nicht nach denselben Kriterien. Dies bedeutet, dass auch die Entscheidungen hinsichtlich der Erstattung variieren können“, erläutert Dr. Magali Boers, Co-Leiterin eines Arbeitspakets der Taskforce und Expertin für digitale Gesundheit im Ministerium für Gesundheit und soziale Sicherheit. „Das zeigte sich z.B. bei den digitalen Therapiegeräten Deprexis® und Hellobetter®. Sie werden in Deutschland erstattet, nicht aber in Frankreich.“ Dies verdeutlicht die Bedeutung der Arbeit der Arbeitsgruppe: Ein harmonisierter Ansatz für die Bewertung digitaler Medizinprodukte ist unerlässlich, um die Integration dieser innovativen Technologien in die Gesundheitssysteme aller europäischen Länder unter Berücksichtigung der nationalen Besonderheiten zu gewährleisten.
Ein Werkzeugkasten für evidenzbasierte Bewertung
Um diesen Rechtsrahmen zu schaffen, hat die Arbeitsgruppe ein Klassifikationssystem und eine Evidenzmatrix für digitale Medizinprodukte mit einer Liste von Kriterien entwickelt. Diese stützen sich auf bestehende nationale Richtlinien und eine in neun Ländern durchgeführte Umfrage zu den Praktiken der Gesundheitstechnologiebewertung. „Wenn ein Unternehmen ein neues Medikament auf den Markt bringen möchte, muss es den Vorgaben der Europäischen Arzneimittelagentur folgen, sowie ein Verfahren durchlaufen, mit klar definierten wissenschaftlichen Studien und klinischen Validierungen“, erläutert Prof. Klucken. „Für digitale Medizinprodukte stehen wir gerade erst am Anfang der Entwicklung eines vergleichbareren evidenzbasierten Bewertungsprozess, sowohl in Europa als auch außerhalb. Das Klassifizierungssystem und die dazugehörige Kriterienliste sind ein erster Schritt, um sicherzustellen, dass wir sichere, wirksame Geräte entwickeln, deren klinischer Nutzen belegt ist und, dass diese EU-harmonisiert zugelassen und erstattet werden können.“
Das neue Klassifikationssystem ermöglicht die Kategorisierung jedes digitalen Medizinproduktes nach seinen spezifischen Merkmalen: Richtet sich das Gerät an Patienten oder Fachpersonal? Dient es der Prävention oder Diagnostik? Soll es Patienten direkt stärken oder medizinisches Fachpersonal bei Entscheidungen unterstützen? Anhand dieser Einordnung lässt sich präzise definieren, welche Anforderungen an die Bewertung gestellt werden müssen – von klinischer Sicherheit über ethische Aspekte bis hin zur IT-Sicherheit.
Eine gemeinsame europäische Vorgehensweise entwickeln
Diese Werkzeuge sollen gemeinsam die Innovationskraft im digitalen Gesundheitsbereich messbar machen und EntscheidungsträgerInnen bei der Integration von digitalen Medizinprodukten ins Gesundheitssystem unterstützen. Sie schaffen einen Referenzrahmen für nationale Bewertungsverfahren, der sich mit EU-Standards in Einklang bringen lässt. Auch EntwicklerInnen profitieren: Die Werkzeuge liefern klare Anforderungen für Gestaltung, Studienplanung und Erstattungsfähigkeit.
„Unsere Arbeitsgruppe hat zahlreiche Akteure zusammengebracht, die den Einsatz digitaler medizinischer Geräte in die Gesundheitssysteme voranbringen wollen. Gleichzeitig wurde das Bewusstsein für die Notwendigkeit spezifischer regulatorischer Verfahren auf nationaler und europäischer Ebene gestärkt“, schließt Prof. Klucken. „Wir hoffen, dass diese Werkzeuge die ersten Bausteine einer gemeinsamen Bewertungsstrategie digitaler Medizinprodukte in Europa darstellen, damit Innovationen mit echtem Mehrwert für Patienten und Fachpersonal erfolgreich in die Versorgung integriert werden.“
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Referenzen:
- Ivana Paccoud, Anja Leist , Isabel Schwaninger, Robin van Kessel & Jochen Klucken, Socio-ethical challenges and opportunities for advancing diversity, equity, and inclusion in digital medicine, Digital Health, October 2024.
- Magali Boers et al., Classification grid and evidence matrix for evaluating digital medical devices under the European union landscape, npj digital medicine, 24 May 2025.
Gegründet 2022 zur Harmonisierung der Bewertungskriterien digitaler Medizinprodukte, besteht die Arbeitsgruppe aus über 20 Mitgliedern – darunter Wissenschaftler, politische Entscheidungsträger, Vertreter nationaler Behörden und Agenturen zur Bewertung von Gesundheitstechnologien aus u. a. Österreich, Belgien, Finnland, Frankreich, Deutschland, Italien, Luxemburg und Spanien. Geleitet wird die Arbeitsgruppe von der französischen Delegation für digitale Gesundheit im Gesundheitsministerium und koordiniert von EIT Health. Weitere Unterstützung kommt von anderen europäischen Gesundheitsministerien und zuständiger Fachbehörden.