Wie würde die Zukunft aussehen, wenn sich Gebäude dynamisch an die Umweltbedingungen anpassen würden? Wenn Fäden den Benutzern anzeigen würden, wie stark sie gedehnt sind, z. B. für eine perfekte Naht nach einer Operation? Wenn sich Filter in Fabriken selbst reinigen könnten?
Drei renommierte Wissenschaftler, Prof. Jan Lagerwall von der Universität Luxemburg, Prof. Maria Helena Godinho von der NOVA School of Science & Technology und Prof. Eugene Terentjev von der Universität Cambridge, haben kürzlich vom Europäischen Forschungsrat (ERC) Fördermittel in Höhe von 8,4 Millionen Euro erhalten, um neuartige flüssigkristalline Elastomere (LCE), die solche Funktionalitäten ermöglichen, zu entwickeln und zu studieren.
Die neuen LCEs stammen von Polysacchariden aus biologischem Anbau wie Cellulose, sie werden je nach Bedarf verwertbar oder abbaubar sein und sie reagieren sehr schnell. Zum Beispiel ändern sie ihre Farbe, Form, Steifheit oder Dämpfungseigenschaften als Reaktion auf Reize wie Wärme, Licht, Feuchtigkeit oder Dehnung. Dadurch können sie mehrere Funktionen in sehr unterschiedlichen Kontexten erfüllen. Die Forscher werden auch neue Methoden zur Verarbeitung von LCE-Vorläufern, die Potenzial für eine industrielle Hochskalierung haben, untersuchen.
Das Projekt wird das konventionelle Paradigma der Herstellung von LCEs umwälzen – sogar in mehrerer Hinsicht – und dadurch sicherstellen, dass die neuen Materialien umweltfreundlich, kostengünstig und für die Produktion in großem Maßstab geeignet sind. Mit dem Projekt „Atypical liquid crystal elastomers: from materials innovation to scalable processing and transformative applications” (ALCEMIST) werden die drei Forscher das volle Potenzial von LCEs erschließen.
Unglaubliches Potenzial von Flüssigkristallelastomeren
Flüssigkristallelastomere sind Kautschuke, die sich von selbst ausdehnen und zusammenziehen. Wie herkömmliche Kautschuke können sie mechanische Arbeit verrichten, benötigen jedoch keine von außen aufgebrachte Kraft, um sich aufzuladen. Diese Materialien haben das Potenzial, in verschiedenen wirkungsvollen Anwendungen eingesetzt zu werden, von energieeffizienten Motoren über reversible Klebstoffe bis hin zu adaptiven Gebäuden und fortschrittlichen medizinischen Instrumenten.
„Wir werden das Potenzial von LCEs in sechs Szenarien demonstrieren, die aufgrund ihrer beeindruckenden Breitenwirkung ausgewählt wurden, z. B. Wärmekraftmaschinen, die mit Industrieabwärme betrieben werden, kinetische Gebäude, die sich autonom an Schwankungen der Umgebungsbedingungen anpassen, und Nahtfäden, die bei Dehnung ihre Farbe ändern, ideal für Roboterchirurgie“, kommentiert Prof. Terentjev.
Flüssigkristallelastomere zugänglich machen
„In diesem Projekt schlagen wir eine neue Plattform für nachhaltige Materialien vor, die natürliche Substanzen namens Polysaccharide verwendet. Durch die Modifizierung dieser Substanzen, wie z. B. Zellulose aus Pflanzen oder Chitin, das aus Abfällen von Meeresfrüchten gewonnen wird, kann jeder flüssigkristalline Elastomere herstellen, die stark, für den Körper unbedenklich und biologisch abbaubar sind, und das zu einem Bruchteil der derzeitigen Kosten“, erklärt Prof. Godinho.
Eine erst kürzlich von Terentjev entdeckte Anwendungsmöglichkeit von LCEs ist die Herstellung reversibler Klebstoffe, die bei Bedarf ein- oder ausgeschaltet werden können. Dies hat ein enormes Potenzial für die Kreislaufwirtschaft, da es ein einfaches Recycling von geklebten Konsumgütern ermöglicht, von Mobiltelefonen bis hin zu Windschutzscheiben von Autos. Eines der wichtigsten anwendungsbezogenen Ziele von ALCEMIST ist es, dieses Konzept von den aktuellen ersten Demonstrationen des Phänomens zu Materialien weiterzuentwickeln, die für den industriellen Maßstab bereit sind.
Erster ERC Synergy Grant in Luxemburg
Dies ist das erste Mal, dass Luxemburg einen ERC Synergy grant erhält, bei dem die Universität als Koordinator agiert. Das Projekt ALCEMIST wird 2025 beginnen und sechs Jahre dauern. Der Synergy Grant unterstützt herausragende multidisziplinäre Wissenschaftler, deren Zusammenarbeit es erlaubt wichtige Fragen anzupacken, die von einem einzelnen Forscher nicht bewältigt werden können.
Prof. Lagerwall ist von diesem Projekt begeistert: „LCEs wurden zwar in Europa entdeckt, sowohl in Bezug auf die Theorie als auch auf die ersten Materialien, aber die jüngsten Fortschritte haben dem Gebiet auf globaler Ebene einen enormen Schub verliehen.”
‟ Mit ALCEMIST werden wir dafür sorgen, dass Europa an der Spitze bleibt, da wir den Übergang zur Bereitstellung dieser erstaunlichen Materialien für großtechnische Anwendungen anführen.”
Full professor in Experimental polymer physics
Das ALCEMIST-Projekt hinterfragt mehrere Konventionen der Art und Weise, wie LCEs synthetisiert, untersucht und konstruiert werden, und verbindet Polysaccharidchemie, Strömungsmechanik, Physik der weichen Materie und intelligentes Verbundwerkstoffdesign. „Mit unserem Ziel, LCEs allgemein zugänglich zu machen und sie in Richtung industrieller Produktion voranzutreiben, wird ALCEMIST Kreativität in großen Gemeinschaften für eine gesündere und nachhaltigere Zukunft ermöglichen“, so Prof. Lagerwall abschließend.