Prof. Benoît Majerus, Historiker an der Universität Luxemburg, startet in Kürze ein innovatives Forschungsprojekt zu globalen Steuernetzwerken. Er setzt dabei auf hochmodernste künstliche Intelligenz, um eine umfassende Übersicht über Briefkastenfirmen zu erstellen.
Der Europäische Forschungsrat (ERC) hat dem neuen Projekt DIGISHELL einen renommierten Advanced Grant zugeteilt und verschafft Majerus damit einen bedeutenden Schub für seine
Forschung. Das Projekt erhält rund 3,3 Millionen Euro Förderung, dank seines umfangreichen Einsatzes von künstlicher Intelligenz (KI).
Briefkastenfirmen: aus dem Schatten ins Rampenlicht
Briefkastenfirmen sind Teil der Infrastruktur des globalen Kapitalismus, da sie als Vehikel für Steuerkonstrukte und Geheimhaltung dienen. Doch genau diese Eigenschaften – Geheimhaltung, Undurchsichtigkeit, grenzüberschreitende Verflechtungen – erschweren jede wissenschaftliche Untersuchung erheblich.
Historiker hatten Schwierigkeiten, geeignete Quellen für ein Thema zu finden, das mit Geheimhaltung verbunden ist, und konzentrierten sich eher auf nationale Fallstudien zu einem Phänomen, das längst Grenzen überschreitet. Und doch ist es gerade eine nationale Fallstudie, die den Weg zu etwas Größerem ebnet: die Forschungsinitiative Letterbox sich ausschließlich auf Luxemburg konzentrierte, bildet die Basis für das neue Projekt DIGISHELL.
Benoît Majerus ist Professor für Europäische Geschichte an Centre for Contemporary and Digital History (C²DH):
‟ Letterbox war wie ein Pilotprojekt für Luxemburg, aber in Wirklichkeit ist es Teil einer globalen Geschichte. Um eine kohärente Narrative aufzubauen, brauche ich einen globalen Ansatz, der auch andere Offshore-Zentren berücksichtigt.”
Full professor/Chief scientist 1 in European history, Social history, History from below 20th century
DIGISHELL, kurz für „Digital archaeology of shell companies: infrastructures of global connections and local networks” erweitert die Untersuchung um drei weitere Fallstudien: Panama, die British Virgin Islands und Singapur.
Dies ist der erste ERC-Zuschuss, den Luxemburg für ein geschichtswissenschaftliches Projekt erhält, was die Bedeutung seines interdisziplinären Charakters und der innovativen Herangehensweise unterstreicht.
Neue Chancen, neue Herausforderungen
Mit dem Letterbox-Projekt wollte Majerus die Funktionsweise des Finanzplatzes Luxemburg besser verstehen. Er betrachtete das gesamte Ökosystem aus Bankern, Anwälten, Wirtschaftsprüfern, Notaren und anderen Akteuren. Dazu musste sein Team das Handelsregister des Landes (Registre de commerces et des sociétés) durchforstern, eine Aufgabe die durch den Einsatz von KI erheblich erleichtert wurde.
„Die Art und Weise, wie Historiker auf Briefkastenfirmen zugreifen können – in Unternehmensregistern, die Millionen von Seiten umfassen, riesige mehrsprachige unstrukturierte Datenmengen –, erfordert den Einsatz von Methoden aus der digitalen Geschichtsforschung“, erläutert Majerus.
Der Historiker ist sich den Herausforderungen durchaus bewusst: neue Vorschriften, unterschiedliche Grade an Transparenz, große Unterschiede bei der Digitalisierung von Archiven. „Diesmal werden wir auch mehr Sprachen bewältigen müssen als in Luxemburg“, erklärt Majerus. „Die Daten, die wir strukturieren müssen, sind im Vergleich zu Luxemburg enorm.“
Sein Team setzt große Sprachmodelle, Analysemethoden und Visualisierungstools auf Basis generativer KI ein, um diese Unmengen an Daten zu verarbeiten. Diese Technologien stecken zwar noch in den Kinderschuhen, werden in der Zukunft jedoch die Arbeitsweise von Historikern mit großen Sammlungen grundlegend verändern.
‟ Diese Forschung wird Licht in ein komplexes internationales Netzwerk bringen. Das Projekt wird nicht nur zu einem besseren Verständnis der Funktionsweise und Entwicklung von Briefkastenfirmen weltweit beitragen, sondern auch eine solide Grundlage für weitere Forschungen in diesem Bereich schaffen.”
Die Ergebnisse dieser interdisziplinären Forschung werden Wissenschaftlern, Historikern und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, under anderem durch Workshops, wissenschaftliche Artikel, Doktorarbeiten sowie eine Monografie von Majerus.
Mehr über den ERC-Zuschuss
Der ERC wird von einem unabhängigen wissenschaftlichen Rat geleitet und bietet vier Förderprogramme für europabasierte Forschungsprojekte. Seit der Gründung durch die Europäische Union im Jahr 2007 hat die Universität Luxemburg Fördermittel für 23 ERC-Projekte erhalten, von denen derzeit 15 laufen.